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58 Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft fordern in einem Offenen Brief ihre Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag auf, einen neuen Anlauf für die Einführung der Widerspruchslösung bei Organspenden zu unternehmen. Ich habe den Offenen Brief, der auf Initiative meiner Kollegin Dr. Gudrun Schittek verfasst wurde, unterschrieben. Warum? Lesen Sie unsere Argumente in dem Offenen Brief, den ich hier im Wortlaut veröffentliche:

„HAMBURG IM MAI 2023 

An die Mitglieder des Deutschen Bundestages 
Platz der Republik 1, 11011 Berlin 

Offener Brief zur Notwendigkeit einer Widerspruchslösung bei der Organspende in Deutschland 

Sehr geehrte Kolleg*innen, 

seit Jahren liegt die Zahl der Organtransplantationen in Deutschland auf einem erschreckend niedrigen Niveau. Nach einem historischen Tiefstand im Jahr 2017 wurde in den Folgejahren zunächst ein Anstieg verzeichnet. Im Jahr 2022 ist die Zahl der Menschen, die nach ihrem Tod zur Organspende gemeldet wurden, jedoch erneut annähernd auf das Niveau von 2017 gesunken. 

Mehrere Novellierungen des Transplantationsgesetzes – zuletzt im Jahr 2020 durch das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft“ – haben das Ziel, die Zahl der Organspenden zu steigern, nicht erreicht. Deutschland befindet sich weiterhin auf einem hinteren Platz in Europa und unter den Eurotransplant-Mitgliedstaaten. So wurden im Jahr 2020 in Belgien rund drei Mal so viele Organspenden bezogen auf die Bevölkerungszahl realisiert wie in Deutschland. Im Eurotransplant-Verbund ist Deutschland das einzige Land ohne Widerspruchsregelung. Der europäische Standard zeigt: Wenn nicht die Bereitschaft, sondern die Ablehnung der Organspende dokumentiert werden muss, können mehr Transplantationen realisiert werden. Wir sind davon überzeugt, dass es notwendig ist, den Anschluss an den europäischen Standard in Deutschland herzustellen, zumal regelmäßig Organe aus Nachbarländern, die unter der Widerspruchslösung entnommen wurden, auch in Deutschland transplantiert werden. Auch in Deutschland sollte eine Bereitschaft zur postmortalen Organspende angenommen werden, wenn keine andere Entscheidung zu Lebzeiten getroffen wurde. Auch in Deutschland sollte die lebensrettende Behandlung von Menschen im Zweifel Vorrang haben. Rund 8.500 Menschen warten bundesweit auf eine Organspende, nur etwa 3.250 Wartende werden jährlich transplantiert. Die Wartezeit auf eine Niere beträgt derzeit ungefähr 10 Jahre. Nur eine belastende Dialysetherapie kann diese Zeit überbrücken. Bei anderen Organen wie Herz, Leber oder Lunge gibt es keine dauerhafte Organersatztherapie, so dass die Menschen ohne Transplantation keine Überlebenschance haben. Hinzu kommen Menschen, die gar nicht erst auf die Warteliste aufgenommen werden, weil die Chancen auf ein Überleben der Wartezeit zu gering sind. 

Organspenden sind in Deutschland eine Gemeinschaftsaufgabe. Das Transplantationsgesetz (TPG) gibt die Aufgabenverteilung vor. Transplantationsbeauftragte in den Entnahmekrankenhäusern führen eine Klärung herbei, ob ein Mensch nach Feststellung des Hirntods zur postmortalen Organspende gemeldet werden kann. Der Verbund Eurotransplant sorgt für die Vermittlung der Organe und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) stellt die notwendige Koordination und Logistik sicher, damit die Organe in eigens dafür zugelassenen Transplantationszentren die empfangenden Menschen rechtzeitig erreichen. Grundvoraussetzung für eine postmortale Organspende ist die Erkennung von Personen in der Intensivmedizin, die für eine Organspende in Frage kommen könnten, sowie die dafür notwendige Hirntoddiagnostik. Begleitend muss die erste Ansprache von Angehörigen stattfinden, um den Spendewillen der verstorbenen Person zu ergründen. Die Abläufe sind komplex und von vielen Einflussfaktoren abhängig. Die Verteilung der Organe erfolgt nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten. Die genauen Richtlinien legt die Bundesärztekammer fest.

Eine bekannte Engstelle bei der Realisierung von Organspenden ist die Zustimmung durch Angehörige. Verständlicherweise sind viele Angehörige mit der Ergründung des Spendewillens eines verstorbenen Menschen überfordert. Bei der Entscheidung zur postmortalen Organspende führt der schriftlich dokumentierte Spendewille von Verstorbenen in der Regel auch zu einer Zustimmung der Angehörigen. Allerdings liegt eine solche Dokumentation über einen Organspendeausweis oder eine Verfügung in den meisten Fällen nicht vor. Wenn Angehörige ohne Anhaltspunkte für den vermuteten Willen der verstorbenen Person selbst entscheiden müssen, wird nur noch in etwa der Hälfte der Fälle einer Organspende zugestimmt. 

Mehrfach wurde belegt, dass die Einstellung zur Organspende in der deutschen Bevölkerung positiv ist, aber nur ein Teil der Menschen die Entscheidung zur Organspende schriftlich dokumentieren möchte – trotz jahrelanger Aufklärungskampagnen und Information durch die Krankenkassen oder durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Das Ausbleiben der schriftlichen Dokumentation ist menschlich, weil dies voraussetzt, sich mit dem eigenen Tod konkret auseinanderzusetzen. Die Realisierung von Organspenden sollte deshalb nicht länger an die Dokumentation der Spendebereitschaft geknüpft sein. Auf Angehörigen sollte nicht länger die Anforderung lasten, den mutmaßlichen Willen einer verstorbenen Person ergründen zu müssen. Im Zweifel muss die lebensrettende Behandlung von Menschen, die auf eine Organspende angewiesen sind, auch in Deutschland Vorrang haben. Auch bei der Widerspruchslösung hat die individuelle Entscheidung eines jeden einzelnen Menschen Priorität. Wer sich mit dieser Frage auseinandersetzt und eine individuelle Entscheidung gegen eine Organspende trifft, kann und soll dies dokumentieren können. Hierfür kann auch das aufzubauende Organspenderegister seinen Zweck erfüllen, dann zur umgekehrten Dokumentation der Ablehnung statt der Zustimmung. Aber wo die individuelle Entscheidung für oder gegen die postmortale Organspende ausbleibt, gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Menschen, die auf eine Transplantation warten. Dieser Verantwortung wird die Widerspruchsregelung am besten gerecht. 

Deshalb bitten wir Sie, ein Gesetzgebungsverfahren zur Einführung der Widerspruchslösung bei der Organspende in Deutschland anzustoßen. 

Mit freundlichen Grüßen“